Sie sind sehr medienwirksam unterwegs – unlängst machten Sie wieder Schlagzeilen mit einem Gastbeitrag in der Bild-Zeitung „Liebe Greta keine Panik! Wir haben deine Zukunft nicht zerstört“. Was stört Sie an der Fridays for Future Kampagne?
Gar nichts, die finde ich großartig. Ich habe auf eine solche Jugendbewegung gehofft, seit ich selbst jung war. Greta Thunberg ruft uns jedoch zur Panik auf. Das halte ich nicht für eine gute Idee. In Panik macht man alles nur noch schlimmer. Wir müssen endlich entschieden aber auch planvoll handeln. Sonst ist das Klima nicht mehr zu retten.
Immer mehr deutsche Städte rufen aktuell den „Klimanotstand“ aus. Sie haben mit der Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ schon vor zehn Jahre die Weichen für eine klimaneutrale Stadt gestellt. Was sind Ihre größten Erfolge?
Die Symbolik der Klimanotstands finde ich so falsch wie Panik. Wir haben in den letzten zehn Jahren unsere CO2-Emissionen ohne Notstand um 30% reduzieren können, während die Zahl der Arbeitsplätze um 25% wuchs. Wohlstand und Klimaschutz gehen zusammen, das sehe ich als die wichtigste Botschaft an.
Was waren Ihre größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung der einzelnen Maßnahmen? Klimaschutz bedeutet ja für viele vor allem Verzicht ...
Das ist aber nicht so. Verzicht auf sinnlos hohe Stromrechnungen oder Autokosten tut gar nicht weh. Die Schwierigkeit besteht darin, die Menschen zu erreichen und zum Handeln zu bewegen. Die Möglichkeiten sind längst da.
Auch bei Ihrem jüngst vorgelegten 10-Punkte-Klima-Plan für ein klimaneutrales Tübingen bis zum Jahr 2030 schlugen die Wellen wieder hoch. Können Sie die wesentlichen Inhalte kurz skizzieren?
Bis 2030 als Stadt klimaneutral zu werden, verlangt neue Wege zu gehen. Zum Beispiel den Autoverkehr überall mit Gebühren für das Parken zu belegen, auch in Wohnstraße und in Gewerbegebieten, und dafür den öffentlichen Nahverkehr kostenfrei anzubieten. Es wird auch nicht ohne Pflichten gehen, zum Beispiel haben wir bereits beschlossen, auf neuen Gebäuden Solaranlagen vorzuschreiben.
Autofreie Innenstadt, Parkgebühren überall, Straßensperrungen, Verpackungssteuer – ist es nicht verständlich, dass der Einzelhandel, der mit Leerständen und sinkenden Umsätzen zu kämpfen hat, bei solchen Maßnahmen auf die Barrikaden geht? Wie gelingt es Ihnen, die Chancen, die solche Maßnahmen für den Handel und die Innenstadt haben aufzuzeigen?
Der Innenstadthandel hat gegen den Internethandel bei Angebotsbreite und Preis keine Chance zu siegen. Unsere USP ist das Erlebnis. Im Internet kann man keinen Cappuccino trinken. Einen Kaffee trinkt man aber lieber in einer schönen Altstadt ohne Autos als an einer viel befahrenen Ausfallstraße. Die meisten Händler haben erkannt, dass jedes Auto, das vor ihrem Laden parkt, zehn andere Kunden vertreibt, die dort zu Fuß gehen wollen.
Das Ziel der Klimaneutralität zieht sich ja durch alle Bereiche einer Stadt – wie kann das Stadtmarketing diesen Prozess unterstützen?
Ohne Bewusstseinsbildung und Mitwirkung aller geht es gar nicht. „Tübingen macht blau“ ist eine Mitmachkampagne und nutzt klassische Instrumente des Stadtmarketings. Weil Tübingen als Klimastadt mittlerweile eine Spitzenstellung hat, kommen auch mehr und mehr Besuchergruppen zu uns, um das anzuschauen. Nächstes Jahr hat sich Bundeskanzler Kurz angekündigt.
In Tübingen sind viele Stadtmarketingprojekte sehr erfolgreich umgesetzt worden – etwa der TüGo-Besser Becher, der Wochenmarkt-Lieferservice oder das Mehrweg-Pfandsystem bei großen Events wie das Festival chocolART. Können Sie die Ansätze kurz erläutern?
Wir wollen weg vom Wegwerfbecher. Damit das komfortabel wird, braucht man ein einheitliches System für Mehrwegbecher mit möglichst vielen Rückgabestellen. In Tübingen haben sich inzwischen 37 Abgabestellen dem ReCup-System angeschlossen. Mit dem Vorgängermodell "Tü-Go-Besser Bechern" hatte Tübingen eine Vorreiterrolle eingenommen. Der eigene Mehrwegbecher wurde befüllt und man hat mindestens 20 Cent auf den gekauften Kaffee bekommen. Deshalb geben auch heute noch viele Abgabestellen den freiwilligen Rabatt auf den ReCup-Becher. Die Stadt hat das initiiert und gefördert.
Der Wochenmarkt ist mit dem Auto nicht mehr erreichbar. Schwere Einkäufe bringt jetzt der Fahrradkurier nach Hause. Auch hier zahlt die Stadt einen Zuschuss.
Und auch auf Deutschlands größtem Schokoladenmarkt, der 250.000 Besucher in die Altstadt und zu den Geschäften bringt, wurde von Beginn an auf ein Pfandsystem gesetzt. Die Aussteller bekommen kostenlos die Porzellantassen und bezahlen lediglich den Spülvorgang, der an zwei zentralen Stellen erfolgt.
Tübingen bewirbt sich um die Landesgartenschau 2032 bis 2036 – die Vision: keine Parkhäuser mehr. Wie soll das gelingen?
Wir wollen bis 2030 mit Reutlingen für eine Milliarde Euro eine Regionalstadtbahn aufbauen. Diese soll das Gebiet mit drei Haltepunkte komplett erschließen. Man braucht also kein Auto für den Besuch. Und wenn man schon in der Werbung darauf hinweist, dass es keine Parkplätze gibt, kommt auch keiner mit dem Auto. Das Angebot schafft die Nachfrage.
Was können Sie Ihren Kollegen in anderen Städten als Pionier der Klimaneutralität mit auf den Weg geben? Was sind die drei wichtigsten Bausteine für den Erfolg?
Da sind wir ja auch noch lange nicht. Aber die Stärke der Städte ist, nah dran an den Menschen zu sein und kooperatives Handeln jenseits von Ordnungsrecht zu stimulieren. Wo man es kann, muss man die richtigen wirtschaftlichen Anreize setzen und Pflichten auferlegen. Dann klappt es.
Das Interview führte Anja Barlen-Herbig
Foto: Boris Palmer mit Fahrrad auf der Neckarbrücke. Das Bild entstand zum Auftakt der städtischen Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau 2.0“ im April 2016. Bild: Gudrun de Maddalena